Kaum ein politisches Phänomen ist so paradox wie die Demokratie. Seit ihren Anfängen auf der Agora im antiken Athen wird immer wieder um Demokratie gerungen, sie verteidigt oder fallen gelassen. Manchmal wird sie reformiert und manchmal scheint es so als ob sie stagniert. Dieser Essay zeigt, warum Demokratie vor allem demokratisches Lernen bedeutet, sich als Gemeinschaft vielen Herausforderungen einer immer komplexeren globalen Welt zu stellen.

Geschichte wiederholt sich, aber wie?
„Wir sind das Volk“, gingen im Herbst 1989 tausende mutige Bürgerinnen und Bürger der DDR auf die Straße, um für ihre demokratischen Freiheiten und Rechte zu kämpfen. „ Wir sind das Volk“ erschallt es heute wieder auf den Straßen eines wiedervereinigten Deutschland. Sowohl in Ost als auch West demonstrieren Bürgerinnen und Bürger gegen aktuelle Entwicklungen. Nur wofür oder wogegen demonstrieren diese Menschen, die nun frei durch das Brandenburger Tor eines demokratischen und wiedervereinigten Deutschlands marschieren können?
Wieder einmal scheint der Moment gekommen zu sein, vom Niedergang der Demokratie zu sprechen. Wieder einmal wird der Verfall der demokratischen Grundordnung befürchtet. Verschwörungstheorien, Fake News und immer größere, vor allem digitale Parallelwelten in den sozialen Medien bedrohen den demokratischen Zusammenhalt. Gefährlich für das demokratische System sind diese Entwicklungen, da diese nicht, berechtigterweise, Kritik an demokratischen Verfahrensweisen üben, sondern direkt das demokratische System ablehnen. Fast scheint es, als wären die großen Hoffnungen erloschen nach dem Ende des Kalten Krieges würde sich die Demokratie als die beste aller Staatsformen weltweit durchsetzen können.
Ähnliche Entwicklungen ereigneten sich bereits im antiken Griechenland zu Zeiten der attischen Pest. Der Geschichtsschreiber Thukydides berichtet, wie angesichts des großen Leids und der Unberechenbarkeit der Krankheit die Bürger, Moral und Gesetz vergessen haben. Wozu sollte man auch die Gemeinschaft berücksichtigen, wenn dieses Schicksal jeden, ob moralisch gut, oder gesetzesuntreu ereilen konnte? Jede und jeder, ob sie sich an die Regeln hielten oder nicht, auf die Gemeinschaft achteten oder nicht, es schien schlichtweg keine Rolle zu spielen. Mit dem Ende der römischen Republik schien die Demokratie wieder in Vergessenheit geraten zu sein, bis die Epoche der Aufklärung die demokratischen Ideale wiederentdeckte und belebte.
Was ist Demokratie, wenn sie nicht das ist, was sie ist?
„We [the people] hold these truths to be self-evident“ lauten die ersten Worte der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Nur ist zu fragen, was eigentlich Demokratie ist, wenn derart oft, für Demokratie gekämpft wird, zugleich gegen Demokratie sie bekämpft wird. Kaum ein politisches System ist derart paradox wie demokratische Systeme. Keine andere Staatsform birgt in sich selbst die Mechanismen für ihre eigene Zerstörung. Deutlicher ausgedrückt, die größte Bedrohung für die Demokratie, stellt die Demokratie selbst dar. Indem jeder und jede berechtigt ist in diesem System mitzugestalten, können sich alle entscheiden, dieses System mitzugestalten, zu ignorieren oder gar sich gegen die Demokratie zu entscheiden.
Trotz der großen Euphorie, trotz der großen Hoffnung, welche viele Menschen mit Demokratie verbinden, eines ist sie sicherlich nicht. Demokratie ist nicht die ideale Staatsform. Ganz im Gegenteil, demokratische Systeme sind anfällig für Demagogie, Manipulationen, sowie der Polarisierung der Gesellschaft. In anderen Worten demokratische Systeme sind fehlerhaft. Aber genau hierin liegt die große Dynamik und Stärke dieser Staatsform, denn niemand kann wirklich vorhersagen, was die perfekte Staatsform ist, da niemand diese jemals gesehen hat.
Demokratie ist das, was sie werden will
Der deutsche Soziologie Oskar Negt prägte einmal den Ausspruch: „Demokratie ist jene gesellschaftliche Lebensform, die sich nicht von allein herstellt, sondern gelernt werden muss!“ Nur was ist zu lernen? Wie sieht dieser Lernplan aus? Wer bestimmt über die Lerninhalte und Lernziele? Letztlich ist zu fragen, wer sind die Lehrenden und wer sind die Lehrenden darin?
Ungeachtet, welche Staatsform eine Gesellschaft wählt, steht der Staat vor der Aufgabe Legitimität unter seinen Mitgliedern herzustellen. Autokratische Systeme verfügen zu diesem Zweck über verschiedene Möglichkeiten, sei es Propaganda, Indoktrination oder Manipulation von vermeintlichen Wahrheiten. Hingegen fällt diese Aufgabe demokratischen Systemen viel schwerer. Niemand verfügt in einem demokratischen System über die letzte Wahrheit. Gegenteilig können oder erheben zumindest bestimmte Personen oder Kreise von Personen in autokratischen Systemen den Anspruch bereits vollständig politisch gebildet zu sein. Ganz im Sinne eines klassischen Verhältnis zwischen Lehrerinnen und Lehrern gegenüber ihren Schülerinnen und Schülern verfügen die politischen Bildnerinnen und Bildner in solchen Systemen über einen Wissensvorsprung. Dieser Vorsprung drückt sich in einem eigenen Wahrheitsmonopol aus. Sie entscheiden letztlich was gelernt wird und warum gelernt wird. Bezogen auf demokratische Systeme verfügt keine Person über ein absolutes Wahrheitsmonopol. Viel eher kennzeichnen sich demokratische Systeme durch den Anspruch diese Wahrheit immer wieder aufs Neue zu suchen und zu erstreiten. Dazu ist jeder und jede eingeladen, in der Rolle von Lehrenden den demokratischen Lehrplan mitzugestalten, sowie in der Rolle von Lernenden dieses Lehrplan zu verinnerlichen. Verdeutlich folgt hieraus, dass anders als in autokratischen Regimen, in demokratischen Gesellschaftsordnungen alle Mitglieder über die Lernziele und Lerninhalte mitentscheiden können, es aber nicht müssen.
Demokratie ist lebenslanges demokratisches Lernen
Der Mensch kann gar nicht anders als immer wieder, lebenslang zu lernen, brachte es einst der große Philosoph der Aufklärung Immanuel Kant zum Ausdruck. Hingegen machte Kant auch deutlich, dass mit der Bildung dem Menschen zugleich die größte Bürde auferlegt wurde, die sich ein Mensch nur vorstellen kann. Lernen bedeutet ganz einfach nichts anderes als Veränderung. Es gibt einen Zustand davor und einen Zustand, nachdem etwas gelernt wurde. Bezogen auf Demokratie ergibt sich eine neue Sichtweise. Anstatt Demokratie als eine Institution mit klaren und starren Regeln zu sehen, kann Demokratie als ein lernendes System aus einer neuen Perspektive zugänglich gemacht werden. Lernen bedeutet Veränderung und demokratisches Lernen bedeutet als Gemeinschaft zu Lernen mit Veränderung umzugehen.
Angesichts disruptiver Technologien, angesichts der neuen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters, angesichts der Globalisierung, angesichts der Klimafrage sowie angesichts des Aufstiegs neue globaler Akteure werden die Dimensionen dieser Veränderungen spürbar. Plötzlich befindet sich die ganze Welt in Bewegung, nur wohin steuert sie in diesem Zeitalter?
Solche Fragen lassen sich ganz unterschiedlichen beantworten. Autokratische Systeme haben in den meisten Fällen ganz klare Vorstellungen davon, wohin sie sich entwickeln wollen bzw. haben sie noch viel klarere Vorstellung davon, wohin sie sich nicht entwickeln wollen, indem demokratisch-freiheitliche Bewegungen mit großer Härte in ihren Anfängen bereits gestoppt werden. Große Erwartungen sind auch mit der Digitalisierung verbunden. Zu Beginn des digitalen Zeitalters waren die Hoffnungen groß, das Internet als Plattform der freien Meinungsäußerung würde weltweit zu einer Demokratisierung führen. Allerdings beweisen Fakenews und Dark Nets, das Menschen scheinbar doch diese Erwartung nicht erfüllen können. Manche plädieren daher dafür, wichtige Entscheidungen Algorithmen zu überlassen, da diese schließlich rational und berechenbar handeln würden. Nur, anders als Menschen, „lernen“ Maschinen nicht durch Erfahrungen und hinterfragen sich selbst. Maschinen bringen keine kreativen Alternativen hervor, sondern stellen lediglich Rückkopplungen der Statistik dar. Alternativ wäre es natürlich auch möglich, nur Expertinnen und Experten, sprich Personen, welche aufgrund ihrer Kenntnisse in der Lage wären, die Folgen von Handlungen abzuschätzen, dazu zu ermächtigen Entscheidungen zu treffen. Hier stellt sich für demokratische Systeme wiederum die Frage, wer darüber entscheidet, nach welchen Kriterien bestimmte Personen als Expertinnen und Experten zu gelten haben. Zumal dieser Status kann sich aufgrund neuer Erkenntnisse stetig wandeln angesichts neuer Realitäten. Anders als andere politische Systeme ermöglicht demokratisches Lernen, dass sich alle Personen hieran beteiligen können. Indem die Lernziele niemals endgültig festgelegt sind, kann sich Demokratie wandeln, aus Fehlern lernen, sich selbst korrigieren, sowie flexibel mit neuen Veränderungen zu interagieren. Allerdings ist dieser Prozess niemals abgeschlossen. Demokratien können nicht anders als dauernd zu lernen.
Demokratie ist Lernwille zur Demokratie
Nur erinnert sich jede und jeder sicherlich daran zurück, dass Lernen nicht immer Spaß macht, sondern manchmal sehr anstrengend und langwierig sein kann. Nicht anders verhält es sich mit demokratischen Lernen. Oft erscheinen die Prozesse zäh und endlos. Aber anders als in vielen anderen Systeme können in einer Demokratie alle daran mitwirken die Ziele solcher Prozesse zu beeinflussen. Jedoch, anders als in der Schule, können Demokratien niemand dazu zwingen, sich an diesem demokratischen Lernen zu beteiligen. Alle müssen selbst entscheiden. Mehr als das Recht zur Mitbestimmung benötig Demokratie den Willen zur Mitbestimmung.
Aktuell stellt die Pandemie Situation das demokratische Gemeinwessen vor große Herausforderungen. Verschiedene Maßnahmen und die Strategien mit diesem Virus umzugehen, spalten die Gesellschaft in verschiedene Lager. Dennoch dürfen Krisen niemals als Katastrophen gesehen werden. Im Gegenteil werden auf diese Weise Defizite deutlich, welche behoben werden müssen. Demokratie ist keine ideale Staatsform, sondern strebt immer nach diesem Ideal, da sie sich selbst in Zielen und Mechanismen hinterfragen kann. Allerdings ist Demokratie kein natürlicher Zustand, sondern wird durch Menschen hergestellt, welche bereit sind mit ihren Visionen und Ideen den demokratischen Lehr-Lernplan zu entwickeln.
Demokratie ist kommende Geschichte
Derzeit erscheint es fast, als würde sich Geschichte wiederholen. Viele der aktuellen Bilder erinnern an die turbulenten Zeiten der Weimarer Republik mit dem Ende der ersten Demokratie auf deutschen Boden. Nur was sind die Lehren aus dieser Geschichte für unsere Zeit? Einst beschrieb der Begründer der Evolutionstheorie und Theologe Charles Darwin den Menschen als moralisches Wesen, indem er als einziges Wesen in der Lage sei, zwischen Vergangenheit und Zukunft zu unterscheiden, aus seinen Erfahrungen lernen zu können. Besonders gilt für eine Demokratie, dass jede und jeder für sich und als Gesellschaft entscheiden kann, ob und was aus der Geschichte gelernt werden soll. Angesichts des Postulats Demokratie zu verteidigen und zu entwickeln ist dies bedeutsam, denn auch wir werden einmal Geschichte sein, Grundlage für die Lernprozesse neuer Generationen bieten. Um dieses Essay mit einer Anregung für die Zukunft zu schließen gilt: „Geschichte dient dazu, einerseits ein Zeugnis von sich zu hinterlassen, aber zeitgleich auch einen Anknüpfungspunkt für kommende Generationen zu geben.“ In diesem Sinne, Demokratie heißt stets Lernen was sie ist und warum es sie braucht, denn anders als viele andere System ist Demokratie darin paradox aus ihren Fehlern zu lernen.